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Montag, 22 August 2016 12:43

Unser Wortakrobat Friedjung Jüttner erzählt

Beim Zahnarzt

Der Zahnarzt lebt bekanntlich von der Hand in den Mund. Trotzdem verdient er nicht schlecht. Das kommt daher, weil alle zum Zahnarzt gehen. Auch die, die es nicht gern tun.

Sobald sich mein Zahnarzt mit dem Spiegel in der einen und der Sonde in der anderen Hand meinem Gebiss nähert, nur um mir auf den Zahn zu fühlen, der jetzt plötzlich nicht mehr wehtut, geht er mir schon auf den Zahn.

Bevor mein Zahnarzt zu bohren beginnt, sagt er immer: „Wenn es wehtut, müssen sie es sofort sagen.“ Ich nicke bereitwillig. Und wenn es dann wehtut, bin ich unfähig es zu sagen, mein Mund ist verstopft.

Ich beschliesse dann tapfer zu sein und mir auf die Zähne zu beissen. Aber auch das geht nicht, denn er hat seine Finger dazwischen.

Wenn ich das Geräusch seines Hochgeschwindigkeitsbohrers nur höre, verkrampfe ich mich schon am ganzen Körper. Wenn er sich dann damit über einen Zahn hermacht, bin ich in Hochspannung. Mit dieser Energie könnte ich den Bohrer auf noch höhere Umdrehungen bringen. Wenn es schlimm wird, befehle ich mir totale Entspannung. Das gelingt mir immer. Aber nur für ein paar Sekunden. Ich lebe dann ganz im Hier und Jetzt. Das lässt mir keine Zeit über die Zeit nachzudenken. Der Gedanke, dass in einer halben Stunde alles vorbei ist, könnte mir da helfen. Aber - der Gedanke kommt nicht.

Ich habe mir sagen lassen, dass nicht alle Menschen den Zahnarzt gleich erleben. Hier ein paar Beispiele:

Der Masochist geht gern zum Zahnarzt. Er findet diesen Besuch nicht nur angenehm, sondern sogar lustvoll.

Der Pietist glaubt, er kommt Gott näher, wenn er ein bisschen leiden durfte. In seiner Vorstellung leistet er damit einen kleinen Beitrag zur Erlösung der Welt.

Wenn der Sadist vom Zahnarzt kommt, gibt er oft daheim den Schmerz weiter – er verprügelt seinen Hund.

Der Fetischist greift nach dem Schuh der Arztgehilfin und drückt ihn innig an seine Brust. Dieses lustvolle Gefühl lässt ihn alle Schmerzen vergessen.

Der Pazifist hält still, obwohl er zurückschlagen möchte. Er weiss, dass er damit – wenigstens an einem kleinen Ort – für Frieden sorgt.

Internist lenkt sich ab und denkt an seine Leberwerte. Die machen ihm oft mehr Kummer als seine Zahnschmerzen.

Auchder Kommunist kann sich gut ablenken. Er überlegt sich während der Behandlung, wie er die Kosten auf den Staat abwälzen kann.

Der Surealist dagegen lenkt sich ab, indem er sich sagt: alle meine Zähne sind gleich. Der rechte ganz besonders.

Der Optimist geht gar nicht zum Zahnarzt. Das funktioniert aber nur so lange, bis seine Zahnschmerzen allen Optimismus ganz brutal in die Flucht schlagen.

Der Fatalist überarbeitet vor seinem Gang zum Zahnarzt jeweils sein Testament.

Der Garagist fühlt sich beim Zahnarzt wie zu Hause. Hier wird - wie in seiner Werkstatt - gebohrt, gespritzt, geklemmt, rausgenommen, eingefügt, gereinigt und poliert. Und das auf engstem Raum. - Da kann er noch was lernen.

Der Rassist hat Mühe damit, dass seine Zähne immer farbiger werden. Er bringt das nicht mit seinem Alter, sondern mit den vielen Ausländern im Land in Zusammenhang. Er kann sich aber bei seinem Zahnarzt nicht beschweren, denn der kommt aus Indien. Und der hat übrigens noch ganz weisse Zähne.

Der Gardist benutzt während der Dienstzeit seine Hellebarde als Zahnstocher. Das freut den päpstlich autorisierten Zahnarzt. Er behandelt gern diese jungen Schweizer. Seine anderen Patienten aus dem Vatikan sind nicht nur zölibatär, sie schlafen auch schon lange getrennt von ihren Zähnen.

Meine persönlichen Zahnarzterlebnisse passen zu keinem der gerade aufgezählten Personen. Vermutlich, weil alle ein bisschen auf mich zutreffen.


Friedjung Jüttner